Auf der Flucht
Ein klappbarer Kindersportwagen
Daten zum Glanzstück des Monats November
Klappbarer Kindersportwagen
Hersteller: Metallwarenfabrik Fleischmann, Mödling (Österreich)
1944
Holz, Stahl, Eisenblech, Leinen, Leder
Maße: 1,24 x 0,61 x 0,42 m
Über dieses Glanzstück
Der Augenarzt Dr. Gerhard Dietrich lebte mit seiner Frau Ada und ihren fünf Kindern in Hermannstadt (heute Sibiu), in Siebenbürgen in Rumänien. Es war der zweite Weltkrieg, die russische Armee war auf dem Vormarsch in Rumänien; deutschen und deutschstämmigen Bürgern drohte – wie anderen Minderheiten – die Deportation nach Russland.1
So entschloss sich der Familienvater am 29. August 1944 zur Flucht – vorerst zu seinen Schwiegereltern nach Wien.
„Erst nach sechseinhalb Wochen entbehrungsreicher „Eisenbahn-KreuzFahrt“ (Serbien- Gross-Kikinda, dann um Budapest herum, schließlich über Ödenburg/Sopron) erreichten sie am 14. Oktober 1944 Wien, wo sie bei der Familie der Großeltern unterkamen.“2
Zum Zeitpunkt dieser ersten Etappe der Flucht waren die Kinder: Gislind (13 Jahre alt), Rolf (12 Jahre), Sigrid (9 Jahre 10 Monate), Ada (6 Jahre 10 Monate) und Heidi (1 Jahr 9 Monate alt).3
„In Wien half Dr. Dietrich bei der Einrichtung von Durchgangslagern für die Flüchtlingsströme aus dem Osten. Wien wurde bereits bombardiert und die Familie sollte deshalb zerrissen werden, jedes Kind in ein anderes Schul-Ausweichlager. Dr. Dietrich nahm deshalb das Angebot an, eine Klinik in Danzig zu übernehmen – doch dies nur mit der gesamten Familie. Dazu wurde im Dezember 1944 für die damals zwei-jährige Heidi das Kinderwägelchen (Firma Fleischmann, Mödling bei Wien) gekauft und auf der weiteren Flucht benutzt. Auch in Danzig nur kurzer Aufenthalt, dann bei minus 25 Grad im ungeheizten Zug nach Westen kam Mutter Ada mit den Kindern im letzten Kinder-Rot-Kreuz-Zug nach 6 Nächten in Schwerin an. Dr. Dietrich konnte mit Schwestern seiner Klinik erst Anfang April 1945 nachkommen. Am 10. April gings weiter bis am 19.April [1945] Nesselwang im Allgäu erreicht wurde und eine Woche später dort die Amerikaner einmarschierten.“4
„Der Kinderwagen wurde für die Familie danach zwischen den Unterkünften in Nesselwang und Kaufbeuren (Praxis und Behelfsunterkunft) eingesetzt. Erst 1947 konnte die gesamte Familie eine Wohnung in Kaufbeuren beziehen, wo Dr. Dietrich inzwischen als Augenarzt praktizierte. Der kleine Wagen wurde auch bei der ersten Reise nach Auerbach in Österreich (nördlich von Salzburg) benutzt, das auch in der amerikanischen Zone lag, und wo sich ein Teil der großen Familie aus Wien, München und Nesselwang im Herbst 1945 treffen konnte. Im Bild die fast dreijährige Heidi, die den Wagen zieht. Als Puppenwagen konnte sie ihn nicht benutzen. Die Wohnverhältnisse (nur 2 schmale Zimmer) waren viel zu klein. Es gab für sie damals noch keine Puppe; ein kleines Dreieckskissen von der Großmutter in Wien hatte sie über die Danzig-Flucht und noch viele Jahre später begleitet.“5
Der Kinderwagen wurde in der Familie bis heute weitergegeben; er kam am 6. Oktober 2022 in die Sammlung des Deutschen Kinderwagenmuseums und wurde so unser „Glanzstück des Monats November 2022“
Gefertigt wurde der Kindersportwagen in der Metallwarenfabrik Fleischmann in Mödling bei Wien.
Zum leichteren Transport ist unser Kindersportwagen klappbar und das große, mit Hartgummi bereifte Ganzmetall-Rad lässt sich abnehmen. Lederriemen dienen der Fixierung der beiden hölzernen Holme. Im zusammengefalteten Zustand misst der Wagen nur 25 mal 127 mal 41,5 Zentimeter. Die kleineren Räder zu beiden Seiten des Gestells sind aus Blech gedrückt und fest montiert. Der Sitz besteht aus einer umlaufend gesäumten Bahn schweren Leinengewebes und ist mit Polsternägeln am Holzrahmen befestigt.
In der Sammlung des Deutschen Kinderwagenmuseums finden sich nur wenige Kataloge aus den 1940er-Jahren – einen vergleichbaren Kindersportwagen konnten wir dort nicht identifizieren.
Ähnlichkeiten weist die hier vorgestellte Konstruktion zu hölzernen Schubkarren oder Krankentragen vom Anfang des 20. Jahrhunderts auf.6 Vermutlich war der Kindersportwagen bei seiner Erwerbung durch die Familie des Augenarztes Dr. Dietrich bereits gebraucht und stammt – darauf deuten Material und Formensprache hin – aus den Jahren 1900 bis 1920.
Quellen:
1 „Das Schicksal der Deutschen in Rumänien“ (1957, Nachdruck 1984), Deutscher Taschenbuch Verlag, dtv 3272. Bericht Nr.15 von Dr. Gerhard Dietrich (im Bericht wurde ein verändertes Autorenkürzel R.H. genannt) über seine Flucht aus Hermannstadt, S. 79-84.
2 Bericht der Tochter Heidi, E-Mail vom 7. September 2022.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Haeselbarth & Storm, Hauptkatalog 1910/1911, S. 22; Naether, Hauptkatalog 1907, S. 48.
Text: Kristin Otto
Fotos: s/w-Foto: © Heidi Lampert, andere Fotos: Nadine Neumann / © MSMZ