Schnell wie der Wind – Sausewind!
Ein Selbstfahrer oder „Holländer“ aus Naether´scher Produktion
Über dieses Glanzstück
Auf ganz ungewöhnlichem Weg fand das „Glanzstück des Monats Mai 2022“ den Weg in unser Museum. Es wurde in der ZDF-Fernsehsendung „Bares für Rares“ vorgestellt und durch Walter Lehnertz alias „Waldi“ ersteigert.
Der Zeitzer Unternehmer Gabor Schmidt wurde durch die Ausstrahlung der Sendung auf den in Zeitz produzierten Holländer aufmerksam, zögerte nicht lange und nahm mit Walter Lehnertz Kontakt auf. Im Gespräch einige man sich darauf, dass der Holländer seinen Weg zurück nach Zeitz, in das Deutsche Kinderwagenmuseum, finden muss.
Der Zeitzer Unternehmer Gabor Schmidt wurde darauf aufmerksam und übergab dem Museum den „Holländer“ am 3. März 2022 als Dauerleihgabe.
Der Selbstfahrer bzw. „Holländer“ entspricht dem Modell 153 der Firma E. A. Naether aus dem Herbstkatalog von 1914 und ist in bemerkenswert gut erhaltenem Originalzustand. So ist die schöne, dunkelrote Originallackierung auf Sitz, Lehne, Holzteilen und der lithographierten „Motorhaube“ zu sehen. Auf der Sitzfläche finden sich der Markenname „NAETHER Sausewind“ und die Reichspatentnummer 272830. Schwarze und goldene Linien akzentuieren den Korpus. Paarweise in der Sitzfläche angeordnete Bohrungen ermöglichen ein einfaches Versetzen der kleinen Rückenlehne, um das Kinderfahrzeug an die Körpergröße des Kindes anzupassen.
Das Fahrgestell aus Metall war ursprünglich schwarz lackiert; davon haben sich nur wenige Reste erhalten.
Im Modellkatalog heißt es:
„Diese Selbstfahrer werden mittelst eines Hebels, Zahnrad- und Fahrradketten-Antriebs spielend leicht in Bewegung gesetzt, durch die auf der beweglichen Vorderachse ruhenden Füsse gelenkt und haben Freilauf, vor- und Rückwärts fahrend. Je nach Größe des fahrenden Kindes ist die Rückenlehne verstellbar.“
Die Kinderwagenfabrik E. A. Naether
1846 übernahm der Stellmachergeselle Ernst Albert Naether die väterliche Werkstatt in der Judenstraße 2. Zunächst baute er der Tradition folgend große Wagen und Schlitten und vereinzelt einfache hölzerne Gestelle für Kinderziehwägelchen. Die steigende Nachfrage nach diesen Untergestellen bewog den Stellmacher schon bald, für seine Kundschaft komplette Kinderwagen zu fertigen. Die benötigten Weidenkörbe bezog er von den ansässigen Korbmachern.
Naether erschloss sich mühsam einen Markt für seine Kinderwagen. 1852 stellte er erstmals auf der Leipziger Messe aus; zahlreiche Bestellungen folgten. Ab Mitte der 1850er Jahre gab Naether den Bau großer Wagen zugunsten der Kinderwagenfertigung auf. Die Popularität des Kinderwagens wurde stetig größer, insbesondere durch konstruktive Veränderungen, die den Gebrauchswert erheblich steigerten. Die Einführung der Schubstange und eines Federgestells zwischen Radachsen und Kinderwagenkorb ermöglichten eine bessere Beaufsichtigung des Kindes und ein sichereres Fahren des Wagens.
Für eine gewerbliche Großproduktion fehlte es Naether anfangs an Kapital und geeigneten Räumlichkeiten. Aus diesem Grund schloss er 1860 mit der „Königlich Preußischen Landarmen und Correctionsanstalt“ in der Zeitzer Moritzburg einen Vertrag, der ihm billige Arbeitskräfte und Räume zusicherte.
1858 wurde Zeitz an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Naether erwarb ein Grundstück in der Bahnhofstraße und ließ hier ein Lagergebäude nebst Kontor für seinen Versandhandel errichten; 1873 verkaufte er das Gelände wieder. Im selben Jahr kaufte Naether das in der Wasservorstadt gelegene „Tabaksfeld“ und errichtete hier ein neues Fabrikgebäude, in dem Schmiede, Korbmacherei, Sattlerei, Lackiererei und Absatz (Versand) untergebracht wurden.
1877 wurde die erste Dampfmaschine in Betrieb genommen, erste Bearbeitungsmaschinen wurden angeschafft. Zu diesem Zeitpunkt kündigte Naether den Vertrag mit der Zeitzer Correctionsanstalt und trat die Firmenleitung an seine Söhne Albin und Richard ab.
Ab 1878 wurde neben der Kinderwagenfabrikation mit der Herstellung von Kinderstühlen, Kinder- und Gartenmöbeln, Wirtschaftsartikeln, Spielwagen sowie Kinderfahrzeugen begonnen.
Bis 1894 wurde die Produktionsfläche ständig erweitert, schließlich durch den Bau des sechsstöckigen Fabrikgebäudes in der damaligen Naetherstraße.
1896 zählte der Betrieb mehr als 750 Angestellte; 1926 waren es bereits 1.700. Die Firma E. A. Naether entwickelte sich zu einer der bedeutendsten und größten deutschen Kinderwagen- und Holzwarenfabriken. Sie bestand bis zu ihrer Enteignung im Jahre 1946.
Kinderfahrzeuge aus Naether´scher Produktion
Bereits seit 1877 widmete sich die Firma Naether neben der Fertigung von Kinderwagen der Herstellung weiterer Produkte aus Holz, darunter Schlitten und Kinderfahrzeuge.
Bereits im ältesten in unserer Sammlung erhaltenen Katalog aus dem Jahr 1883 ist eine große Auswahl von Schlitten (22 verschiedene Modelle!) verzeichnet, ein patentiertes verstellbares „Kinder-Velociped“ sowie zwei „Propeller“ genannte Selbstfahrer für Mädchen und Jungen, die sich durch die Sitzposition unterschieden.
Seit 1892 finden wir in den Naether-Katalogen die Aufteilung in 4 Abteilungen. Abteilung IV beinhaltet neben Puppenwagen und Puppenmöbeln auch Spielwagen, Schaukeln, Sportwagen, Klapp-Fahrstühle, Kinder-Velocipeds und Kinder-Schlitten.
Bis 1908 dominieren die „Propeller“. Im Katalog von 1908 entdeckt man den ersten Holländer-Selbstfahrer „Kinderlust“.
Ab 1914 gibt es die Selbstfahrer unter dem Markennamen „Sausewind“ und erstmals mit einer an ein Automobil erinnernden „Motorhaube“.
1915, unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges erfreut Naether seine junge Kundschaft mit dem „Auto-Brummer“, einem Spezialmodell des bekannten „Sausewind“, das sich ruck-zuck in ein Geschütz verwandeln lässt. Angepriesen wird der „Auto-Brummer“ als „große Freude für unsere jetzt täglich Krieg spielenden Knaben“ – andere Zeiten, andere Ideale.
Im Katalog von 1922 begegnen uns erstmals Spielgeräte unter dem lange gebräuchlichen Markennamen „Dasda“, das neue, durch Reichsmuster geschützte „Rapidomobil“, der Selbstfahrer „Tritto“ und der Trittfahrer „Fixo“, ein Vorläufer des legendären Naether-Wipprollers. Das „Bubi-Rad“, ein einfaches Dreirad aus Holz, entwickelte sich zum Verkaufsschlager.
Auf Seite 100 im Katalog von 1922 – und nur dort – begegnet uns ein „Eisrenner“, der vermutlich nur wenige Jahre produziert wurde – bereits im Katalog von 1925 ist er nicht mehr verzeichnet. Aus demselben Jahr stammt das erste in unseren Katalogen nachweisbare Kinderfahrzeug in Form eines Automobils, ein dreirädriges Fahrzeug ohne Antrieb, das unter dem Namen „Halli“ vermarktet wurde. Hier nimmt die Geschichte der Naether-Tretautos ihren Anfang.
Text: Kristin Otto
Fotos: Gabor Schmidt / MZ / © MSMZ