Eine Madonna der Spätgotik
halbfigurige Holzskulptur
Daten zum Glanzstück des Monats Dezember
Gotische Halbfigur
kunsthistorische Einordnung: Spätgotik („weicher Stil“)
Datierung: ca. 1425-30 (?)
Material: Lindenholz
Höhe: 38,3 cm
Inv. Nr.: VI/C-44
Ersterfassung: 28.09.1960
Provenienz: Altbestand
Über dieses Glanzstück
Ein Kind wird von einer Mutter geboren. Das natürlichste und tagtäglichste Geschehen auf der Welt. Doch das Kind, das vor rund 2000 Jahren in der Region von Palästina geboren wurde, ist nicht irgendein Kind, denn: „er [der Sohn Gottes] (…) [ist gekommen um] sein Volk zu retten von ihren Sünden.“ (Matthäus 1, 21-22). Zum Gedenken an diese Geburt, die Geburt Gottes Sohns auf Erden, feiern wir jedes Jahr aufs Neue das Weihnachtsfest. Damit verbunden ist bei uns nicht nur das jährliche Backen von Plätzchen und das gegenseitige Beschenken, sondern auch bei vielen die Tradition sich am 24. Dezember – zusammen mit den „Liebsten“ – in der Kirche zu versammeln und die Geschichte von der Geburt Christi erneut zu hören. Die beiden wichtigsten Hauptakteure dieser biblischen Geschichte sind bei der hier vorgestellten Halbfigur zu sehen: Maria mit dem Jesusknaben auf dem Arm.
Die pausbäckige Muttergottes erwächst auf einem kleinen, glatten Sockel gleichförmig nach oben. Ihr gekröntes Haupt ist von einem Schleier bedeckt, der seitlich des Kopfes sanft herabfällt. Der Saum des Schleiers ist mit einer diamantenen Borte verziert. Darunter fällt in glatten, langen Strähnen das Haar auf die schmalen Schultern. Ihr Kopf ist mit einer Krone versehen, wobei der Kronenreif deutlich von den fünf Lilienblättern abgesetzt ist. Gekleidet ist die Mutter Gottes mit einem hemdartigen Untergewand, über dem ein aufgeschlagener, sehr stofflich gestalteter Mantel erkennbar ist. Der Saum dieses Mantels ist über ihre beiden Unterarme gelegt, während der restliche Teil sich in angedeuteten Faltenwürfen auf dem gleichfarbigen Sockel sammelt. Dahingegen ist der Jesusknabe unbekleidet. Sehr keck sitzt er sicher in den Armen Marias. Auffällig bei beiden ist jedoch, dass sie den Betrachter nicht direkt anschauen, sondern seitlich an ihm vorbei. Zudem fällt an der Figur zeituntypisch auf, dass der Jesusknabe die Weltkugel, statt mit einer, gleich mit beiden Händen umfasst.
Bemerkenswert ist die besondere Plastizität der beiden Figuren. Dies gibt der Plastik ein dreidimensionales Aussehen, obwohl sie eine geglättete Rückseite hat. Sowohl Maria als auch das Jesuskind sind von einer Körperlichkeit gekennzeichnet, die bei Halbreliefs eher selten ist. Nicht nur der vollrunde Oberkörper und die ausgeprägten Hautfalten an Hals und Kinn des Jesusknaben stechen deutlich hervor, sondern auch die pausbäckigen, gerundeten Wangen mit der hohen geglätteten Stirn der Muttergottes. Dahingegen erscheint ihre schmale gerade Nase und der zierliche Mund fast etwas zu zart gestaltet worden zu sein. Verstärkt wird diese Plastizität durch die runden, fließenden, fast schon stofflichen Falten des Gewandes und des Kopftuches. Dieses deutliche Streben nach einer tastbaren räumlichen Wirkung gibt Rückschlüsse auf die stilistische Einordnung des einseitigen Reliefs. Die halbfigurige Madonna stammt aus einer Stilrichtung in der spätgotischen Malerei und Plastik, die ihren Namen gerade den typischen runden, fließenden Formen verdankt: der „weiche Stil“ – eine Stilrichtung, die um das Jahr 1400 weit in den Gebieten nördlich der Alpen verbreitet war.
Nichtsdestotrotz ist die Symbolik der Plastik unverkennbar. Maria mit der Lilienkrone, einer unverkennbaren Herrschaftskrone auf dem Haupt und daneben der Christusknabe mit der Weltkugel oder aber einem Apfel in den Händen. Die Kugel steht dabei sinnbildlich für die Rechtmäßigkeit seiner Regentschaft bzw. den Sündenfall Adams und Evas. Allein durch diese beiden Attribute wird ihre Einbettung in einen sakralen Kontext klar. Solche Mariendarstellungen sind zumeist in den Altären von Kirchen zu finden. Jedoch handelt es sich bei diesem Vertreter einer gotischen Madonna um eine Halbfigur und nicht um eine Ganzfigur wie sie eigentlich häufig in der Mitte von Altarschreinen zu finden ist. Dies widerspricht der Annahme, dass die Plastik einem Altar entnommen wurde. Vielmehr ist ein Chorgestühl oder aber der obere Teil eines Dorfsaales als Anbringungsort wahrscheinlich. Dadurch würde sich auch der Sockel der insgesamt recht kleinen Figur erklären, welcher für sich eine Seltenheit an Marienfiguren darstellt. Zudem sind an der Hinterseite an der Marienfigur ein großes Loch sowie ein metallener Haken erkennbar. In Kombination mit der gesplitterten Rückseite, liegt die Tatsache nahe, dass sie gewaltsam aus ihrem ehemaligen Kontext herausgelöst wurden sein muss. Wo nun genau der ursprüngliche Standort des Halbreliefs war, kann heute nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden. Begründet ist jedoch die Annahme, dass sie im süddeutschen Raum hergestellt wurde. Zum einen sprechen ihre stilistischen Auffälligkeiten dafür, zum anderen die Tatsache, dass sie aus einem Münchener Kunsthandel in das Museum kam. Überdies gab der Kunsthandel Auskunft darüber, dass die Madonna vermutlich aus dem österreichischen Ort Waggendorf stammt.
Ein ähnliches Rätsel gibt das Alter der Madonna auf. Ausgehend von den stiltypischen Kriterien ist sie auf die Anfänge des 15. Jahrhunderts zu datieren. Jedoch geben die auffällig glatte und unversehrte Oberfläche sowie die eingeprägten drei Zahlen „179‘‘ auf der Unterseite des Halbreliefs Grund zur Annahme, dass sie im Verlauf des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts, als Resultat des damals aufkommenden Historismus angefertigt wurde. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts manifestierte sich in Deutschland mit dem Historismus eine neue Stilrichtung, die die Rückbesinnung auf die mittelalterliche Formensprache zum Ziel hatte. Dabei erreichten solche Motive einer spätgotischen Plastik Höchstpreise auf dem Sammlermarkt. Abschließend muss die Frage des ursprünglichen Standortes sowie der zeitlichen Einordnung der Plastik unbeantwortet bleiben. Nichtsdestotrotz ist und bleibt sie ein einzigartiges Kunstwerk unseres Museums sowie eine plastische Erinnerung daran, warum wir jedes Jahr das Weihnachtfest feiern.
Text: Nadine Neumann / Fotos: © MSMZ